Am 3. Oktober fand in Berlin die Kundgebung »Nie wieder Krieg ⸻ die Waffen nieder!« statt. Mit leidenschaftlichen und eindrucksvollen Reden traten dort unter anderem die Kriegsdienstverweigerer Andrii Konowalow aus der Ukraine und Artem Klyga aus Russland auf, der bei der Veranstaltung unsere Organisation vertrat. Unter dem folgenden Link finden Sie das Video ihrer Reden. Unten folgt der Text in schriftlicher Form.
VIDEO ⸻ ARTEM KLYGA UND ANDRII KONOWALOW GEGEN KRIEG, Berlin Berlin TV ↷
ARTEM KLYGA:
»Mein Name ist Artyom Klyga. Ich bin Kriegsdienstverweigerer aus Russland. 2022 musste ich mein Land wegen des Krieges verlassen. Heute lebe ich in Offenbach und vertrete die Organisation „Connection e.V.“ Zuerst möchte ich gratulieren: alles Gute zum Tag der Deutschen Einheit! Und ein großes Dankeschön für die Einladung, an diesem besonderen Tag vor so vielen Unterstützer*innen des Friedens sprechen zu dürfen. Aber, Freunde, wir müssen Klartext reden. Wir erleben eine gefährliche Entwicklung. In Russland, in der Ukraine, in Belarus ⸻ das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird fast völlig missachtet.
Jede Woche erreichen uns Hilferufe von Menschen aus diesen Ländern. Und es wird immer schwieriger, ihnen wirklich helfen zu können. Und seien wir ehrlich: auch hier in Europa ist dieses Recht bedroht. Diskussionen über die Rückkehr der Wehrpflicht, über militärische Registrierung, sogar für Frauen ⸻ alles unter dem Vorwand der „nationalen Sicherheit“. Das sind die Folgen von Putins Krieg, der Europa in eine Falle geführt hat: auch hier wird nach neuen Feindbildern gesucht. Und diejenigen, die schon den Mut hatten, „Nein“ zu sagen ⸻ Deserteur*innen, Verweigerer*innen ⸻ stehen noch schlechter da! Migrationsbehörden behaupten: kein Risiko. Doch Gerichte, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die UN sagen klar: doch, es gibt Risiken in Russland! Putin kämpft mit jungen Soldat*innen!
Letzte Woche starb der erste junge Mann des Jahrgangs 2007 im Krieg. 2022 war er 15 Jahre alt!Selbst die humanitären Aufnahmeprogramme ⸻ in Deutschland bereits beendet, in Frankreich bald auch ⸻ haben Verweiger*innen von Anfang an ausgeschlossen. Gestern war ich auf einer Konferenz des Auswärtigen Amts Deutschlands, das offiziell bestätigt hat, dass Bürger*innen Russlands und Belarus künftig keinen erweiterten humanitären Schutz mehr erhalten werden. So wird das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu einer leeren Hülle. Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der Gedanken— und Gewissensfreiheit garantiert, wird offen verletzt.
Ja, es gibt kleine Erfolge. 2024 konnten wir russische Deserteur*innen aus Kasachstan nach Frankreich bringen. In Berlin und Hessen haben Gerichte den Schutz für Verweiger*innen anerkannt. Aber seien wir ehrlich: Reicht das? Vier Jahre nach Beginn des größten Krieges in Europa gibt es kein einziges systemisches Programm zur Unterstützung von Verweiger*innen. Hunderte sitzen in Transitzonen, in rechtlicher Unsicherheit oder in Abschiebehaft. Viele sind bereits in der EU ⸻ und bekommen trotzdem kein Asyl. Wenn wir so weitermachen, entfernt sich Europa von dem Menschenrechtssystem, das wir über Jahrzehnte aufgebaut haben. Das dürfen wir nicht zulassen!
Denn: Kriegsdienstverweigerung ist kein Verbrechen. Sie ist ein Akt des Mutes. Sie ist die Verteidigung der Menschenwürde. Und unsere Aufgabe ⸻ als Zivilgesellschaft, als Regierungen, als Menschen, die an Freiheit glauben ⸻ ist klar: wir müssen dafür sorgen, dass dieses Recht nicht unter Militarismus und Angst begraben wird. Danke euch!«
ANDRII KONOWALOW:
»Als Kind in der Ukraine erschien mir vieles selbstverständlich: dass jeder Mensch Respekt und gleiche Rechte verdient. Dass die Schwächsten geschützt werden müssen ⸻ und nicht umgekehrt.
Doch diese Wahrheiten wurden Stück für Stück relativiert. Zuerst in der Ukraine, dann ⸻ mit dem Krieg ⸻ auch in Europa. Ich sah, wie Politiker*innen die grundlegenden Werte missbrauchen, um Zwang, Folter ⸻ deren Einsatz bei der Mobilisierung bereits in UN—Berichten dokumentiert ist ⸻ und den dadurch verursachten Tod zu ignorieren oder sogar zu rechtfertigen.
Politiker*innen sagen: „Mit diesem Krieg verteidigen wir die Freiheit“. Aber was hat Freiheit mit der Entscheidung zu tun, Menschen zu verbieten, die Kriegszone zu verlassen, und sie stattdessen in das Schlachten zu zwingen?
Sie sagen: „Mit der Verlängerung dieses Krieges schützen wir die Zukunft“. Doch was könnte gefährlicher für die Zukunft darstellen als ganze Völker zu entmenschlichen und zugleich mit den Risiken eines Atomkriegs zu spielen?
Sie sagen: „Mit diesem Krieg verteidigen wir die Demokratie“. Aber was ist ein größerer Verrat an der Demokratie als die Abschaffung freier Wahlen und die Missachtung des Rechts, sich zu weigern, zu töten?
Ja, die Demokratien sind heute weltweit bedroht. Aber diese Gefahr kommt nicht von einer bestimmten Nation oder Religion. Die eigentliche Bedrohung kommt aus extremer sozialer Ungleichheit, aus Spaltungspolitik und aus der selektiven Anwendung grundlegender Rechte.
Die einzige Antwort: Spaltung zurückweisen. Ganze Völker nicht als Feinde abzustempeln. Sondern Dialog, Kompromisse, und gegenseitiges Zuhören als echte Lösungen gegen den Vormarsch des Extremismus ⸻ in Russland, in Israel, aber auch in den USA, in der Ukraine und hier in Europa.
Wenn wir über die Menschen sprechen, die aus der ukrainischen Armee geflohen sind: nach offiziellen Angaben waren es in den letzten sechs Monaten mehr als 125 000.
An der Seite der Ukraine zu stehen, bedeutet auf ihrer Seite ⸻ an der Seite ihres Volkes zu stehen ⸻ nicht an der Seite der Elite, die ihre eigenen Familien in Sicherheit wissen und gleichzeitig andere zwingen, ihr Leben zu opfern.
Freiheit lässt sich nicht mit Zwang verteidigen. Und der allererste Schritt, den die europäischen Regierungen unternehmen könnten, wäre, jene Milliarden, die in Waffen fließen, an konkrete Maßnahmen der ukrainischen Behörden zu knüpfen ⸻ Maßnahmen, die darauf abzielen, das Ausmaß von Willkür und Folter an den eigenen Bürger*innen im Namen der Mobilisierung zu verringern. Doch das ist natürlich nicht das, was wir sehen ⸻ und auch nicht das, was wir sehen sollen.
Denn diese Waffenlieferungen und dieser Krieg selbst haben nichts mit Freiheit zu tun, nichts mit Demokratie, nichts mit den Interessen des ukrainischen Volkes und auch nichts mit den Interessen des ukrainischen Staates. Sie dienen nur einem einzigen Zweck: den Interessen einer neokonservativen transatlantischen Clique, meine Freunde.
Und kein*e Europäer*innen kann sich seiner Rechte sicher sein, solange Menschenrechte nicht für alle gelten. Und keiner kann sich sicher fühlen, solange die Sicherheit nicht für alle gewährleistet ist.«