Andrii Konovalov
Als ich in der Ukraine aufwuchs, erschienen mir viele Dinge selbstverständlich und unbestritten. Mir wurde beigebracht, dass jeder Mensch den gleichen Respekt und die gleichen Rechte verdient, dass es falsch ist, Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Gebrauchssprache zu unterteilen, und dass man solche Versuche tadeln sollte. Mir wurde auch beigebracht, dass die Schwachen und Wehrlosen geschützt werden sollten — und nicht umgekehrt.
Leider wurde mein Aufwachsen von einer zunehmenden Relativierung all dieser grundlegenden Wahrheiten begleitet.
Zuerst in der Ukraine, und mit Beginn der russischen Invasion auch in Europa, sah ich, wie politische Demagogen Werte und Prinzipien missbrauchen, um Verbrechen gegen die breite Bevölkerung zu rechtfertigen.
Am Beispiel der Ukraine wurde dies besonders deutlich. Politiker sprechen von der Notwendigkeit, den Krieg fortzusetzen, um die Freiheit zu verteidigen. Aber was könnte für die Freiheit schlimmer sein, als Eltern ihre Kinder zu entreißen und sie zum Kämpfen zu zwingen — unter Anwendung von Folter, wie es im Bericht des UN-Kommissars vom November letzten Jahres dokumentiert wurde?
Sie sprechen vom Schutz unserer Zukunft, während sie gleichzeitig die Bedrohung durch die Waffenproduktion — die hunderte Milliarden jährlich kostet — und die Gefahr eines Atomkriegs ignorieren.
Sie sprechen vom Schutz der Demokratie — aber was könnte eine größere Bedrohung für die Demokratie sein als die Missachtung so grundlegender Rechte wie dem Recht, sich dem Töten zu verweigern?
Sie sprechen von Gerechtigkeit und vom Erreichen des Friedens — doch was könnte ungerechter sein, als Menschen in zwei Kategorien zu teilen: jene, die ihre Kinder in Europa verstecken dürfen und in luxuriösen Sälen über die Unzulässigkeit von Kompromissen dozieren, und jene, die gezwungen sind, das ultimative Opfer zu bringen?
Wir sollten klarstellen, dass die Bedrohung für unsere Zukunft heute nicht von einer bestimmten Nationalität, Kultur oder Religion ausgeht. Die wahre Bedrohung liegt in der ungeheuren sozialen Ungleichheit, in einer Politik der Spaltung und in der selektiven Anwendung von Rechtsansprüchen.
Die einzige Möglichkeit, dieser Bedrohung zu begegnen, besteht darin, die Spaltungspolitik abzulehnen, den anderen nicht zum Feind zu erklären und die Rückkehr zum Dialog zu fordern — zu einem Dialog, der es ermöglicht, dem Vormarsch extremer politischer Kräfte in Russland und der Ukraine, aber auch in Israel, Europa und den USA, Einhalt zu gebieten.
Die Demokratie ist weltweit bedroht — und nur eine weltweite Absage an konfrontative Politik kann den Radikalen den Wind aus den Segeln nehmen, die Demokratien schützen und eine gerechtere Welt schaffen.
An der Seite der Ukraine zu stehen, bedeutet, an der Seite ihres Volkes zu stehen — nicht an der Seite jener, die ihre eigene Familie in Sicherheit wissen und gleichzeitig andere dazu zwingen, das Leben ihrer Kinder zu opfern. Freiheit lässt sich nicht mit Zwang verteidigen.
Kein Europäer kann sich seiner Rechte wirklich sicher sein, solange die Menschen- und Bürgerrechte nicht jedem Europäer garantiert werden. Und niemand kann sich wirklich sicher fühlen, solange Sicherheit nicht für alle gewährleistet ist.
Andrii Konovalov: »Was könnte eine größere Bedrohung für die Demokratie sein als die Missachtung grundlegender Rechte?« Redebeitrag in Berlin, 17. Mai 2025 aus Anlass des Internationalen Tages der Kriegsdienstverweigerung. Andrii Konovalov ist ukrainischer Kriegsgegner.