Internationales Zentrum für Bürgerinitiativen „Unser Haus“ (Belarus)
von Olga Karatch
Heute, am 15. Mai, begehen wir den Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung. Es ist unfassbar, dass in unserer Region heute ein Krieg herrscht. Und ich kann es immer noch nicht begreifen und akzeptieren.
Wenn mich vor zehn Jahren jemand gefragt hätte, welches Szenario realistischer sei – ein Angriff von Außerirdischen auf unseren Planeten oder eine russische Invasion in der Ukraine – hätte ich gesagt, dass man darüber nicht nachzudenken braucht; natürlich sind Außerirdische das realistischere Szenario.
Manchmal wird mir gesagt, ich hätte Glück, eine Frau zu sein. Aber in Belarus sind Frauen mit höherer Bildung zum Militärdienst verpflichtet. Ich bin Lehrerin, und an unserer Universität gab es auch eine militärische Abteilung wo wir zu Militärkrankenschwestern ausgebildet wurden. Wir haben ein Staatsexamen in Medizin abgelegt. Das heißt, wenn die belarussische Armee in die Ukraine einmarschiert, könnte ich, wie viele meiner Kolleg*innen, als Krankenschwester an die Front gerufen werden.
Aber ich will nicht kämpfen und ich will nicht zu den Waffen greifen. Ich will nicht in einen Krieg ziehen.
Heute stehen belarussische Männer, die zur Armee eingezogen werden, vor einer sehr schwierigen Entscheidung: Entweder sie treten in die belarussische Armee ein, mit dem Risiko, dass Alexander Lukaschenko die belarussische Armee (und auch die Männer) zur Unterstützung Putins in die Ukraine schickt, oder sie kämpfen für ihr grundlegendes Menschenrecht, nicht zu den Waffen zu greifen.
Für Menschenrechte zu kämpfen, wenn der Staat sie nicht gewähren will, ist immer schwierig. In Belarus ist es noch dreimal schwieriger. In Belarus gibt es keine unabhängigen Gerichte und der Versuch, den Dienst in der Armee zu verweigern, führt zu strafrechtlicher Verfolgung und Gefängnis. In Belarussischen Gefängnissen werden Menschen gefoltert und getötet. Seit 2020 sind 8 Menschen in belarussischen Gefängnissen an Folter, Misshandlung und mangelnder medizinischer Versorgung gestorben. Und das sind nur die Personen, die wir kennen. Es ist nicht bekannt, wie viele tatsächlich gestorben sind. Auch in der belarussischen Armee gibt es Folterungen, Selbstmorde und sogar außergerichtliche Hinrichtungen.
In Belarus wird dich niemand einstellen, wenn du Kriegsdienstverweigerer bist. In Belarus ist es verboten, einen Mann einzustellen, der keinen Militärausweis vorweisen kann.
Wenn ein junger Mann in Belarus der militaristischen Propaganda erliegt und an der Militärakademie studiert, dann aber seine Meinung ändert und das Studium abbrechen will, ist das praktisch unmöglich. Andernfalls muss er eine Strafe von etwa 20.000 bis 30.000 Euro an den Staat zahlen. So viel Geld haben die Belarus nicht.
Nach der Militärakademie ist ein Mann verpflichtet, 5 Jahre lang in der Armee zu arbeiten. Es ist unmöglich, diese fünf Jahre zu beenden, sonst muss er eine hohe Strafe zahlen, die unmöglich zu bezahlen ist. Deshalb ist es für jeden belarussischen Mann sehr beängstigend, „Nein“ zu diesem riesigen Unterdrückungsapparat zu sagen. Denn der Preis, den er für die Verweigerung des Dienstes in der Armee zahlt, ist hoch. Und viele haben große Angst.
Dennoch gibt es Männer, die NEIN zum Militärdienst sagen.
Ich möchte heute all derer gedenken, die in belarussischen Gefängnissen sitzen, nur weil sie nicht zur Armee gehen wollten. Im Jahr 2023 gibt es 400 solcher Fälle, aber nicht alle Namen sind bekannt. Wir kennen unsere Helden nicht, weil alle Prozesse gegen Kriegsdienstverweigerer geschlossen und die Statistiken geheim sind. Die Verwandten haben Angst, Kontakt aufzunehmen, weil der KGB Druck auf sie ausübt und Repressalien gegen die Verwandten riskiert.
Es gibt belarussische Männer, die sich mit der bestehenden Situation nicht abfinden wollen und aus dem Land fliehen. Sie fliehen illegal über die Grenze, denn in Belarus werden Wehrpflichtige in eine spezielle Datenbank derjenigen aufgenommen, die Belarus nicht verlassen dürfen.
Sie fliehen vor der Armee, aber es ist schwer, und die meisten von ihnen werden trotzdem erwischt. Wenn in der belarussischen Armee ein Mobiltelefon bei einem Soldaten gefunden wird, kommt er für 15 Tage in die Strafzelle. Es gibt keine Möglichkeit, Informationen zu erhalten. Desertion kann in Belarus unter dem Artikel „Hochverrat“ mit dem Tod oder 25 Jahren Gefängnis bestraft werden, während die Unterstützung von Deserteuren eine Straftat ist, die mit bis zu 5 Jahren Gefängnis bestraft werden kann.
Dennoch gibt es Deserteure, die ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Gesundheit riskieren.
Aber nachdem sie die Schrecken der Flucht und die Angst, gefasst zu werden, überlebt haben, nachdem sie die illegale Flucht ins Ausland überlebt haben, sehen sich die belarussischen Deserteure mit der Tatsache konfrontiert, dass die litauische Migrationsbehörde ihnen politisches Asyl verweigert und sagt, dass sie in Belarus sicher sind und nach Belarus zurückkehren können.
Dies ist die wahre Geschichte eines belarussischen Deserteurs, Nikita, der sich derzeit in Litauen aufhält und in Panik gerät, dass er von den litauischen Behörden nach Belarus zurückgeschickt werden könnte. D.h. in ein belarussisches Gefängnis, wo ihn Folter, eine lange Haftstrafe oder der Tod erwarten.
Belarussische Kriegsdienstverweigerer erhalten in Litauen keinen Status. Im Gegenteil, wenn sie in der Vergangenheit Militärdienst geleistet haben, werden sie als Bedrohung für die nationale Sicherheit Litauens angesehen und zurück nach belarussland deportiert.
Wir brauchen heute dringend Ihre Solidarität!
Solidarität mit den belarussischen Männern, die nicht zu den Waffen greifen und der Armee beitreten wollen! Solidarität mit den Belarussen, die sich nicht am Krieg in der Ukraine beteiligen wollen! Solidarität mit Belarus, das den militaristischen Alexander Lukaschenko nicht unterstützt!
Helft uns, uns nicht am Krieg zu beteiligen!
Olga Karatch: Grußwort zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung. Internationales Zentrum für Bürgerinitiativen „Unser Haus“ (Belarus). Gesendet per Email am 15.05.2024.