Für ein Recht zu kommen, zu gehen und zu bleiben

Rede zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung am 15.05.2024

von Marah Frech, 15.05.2024

Wir sind heute hier, weil der 15. Mai seit 1982 als Internationaler Tag der Kriegsdienstverweigerung begangen wird. Angesichts der Aufrüstung und Militarisierung, die wir gegenwärtig beobachten, ist dieser Tag enorm wichtig.

Letztes Jahr haben wir diesen Tag der #ObjectWarCampaign zur Unterstützung von Verweiger*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine gewidmet – und da der Krieg in der Ukraine noch immer andauert und Rekrutierungsversuche stetig ausgeweitet und brutaler werden, betonen wir auch dieses Jahr: Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung muss auch im Krieg in der Ukraine gelten!

Doch heute kämpfen wir nicht nur mit Verbündeten aus und für Russland, Belarus und der Ukraine, sondern auch in Solidarität mit allen Kriegsgegner*innen in Israel und Palästina.

Auf das brutale Massaker an der israelischen Bevölkerung durch die Hamas am 7. Oktober, auf die Schmerzen und Traumata des Angriffs und der Geiselnahmen, hat das israelische Militär mit einem Angriffskrieg auf Palästinenser*innen in Gaza und im Westjordanland reagiert. Die Grausamkeiten des seit acht Monaten andauernden Krieges sind schwer zu ertragen; doch wir dürfen die Augen nicht schließen, wenn – ins Besondere – palästinensische Journalist*innen selbst, ihre eigene Zerstörung dokumentieren.

Heute, am 15. Mai, wird weltweit der Nakba gedacht.

Zeitgleich werden unzählige Menschen in Gaza getötet und Überlebende einer humanitären Katastrophe ausgesetzt, die kaum mehr mit Worten beschrieben werden kann. Wir schließen uns den Rufen nach einem sofortige Waffenstilland und einem Ende des Krieges in Gaza an. Krieg ist ein Verbrechen an Menschen und der Menschlichkeit!

Hier wie in Israel/Palästina gibt es Widerstand gegen diesen Krieg. Palästinenser*innen und Israelis, wie z.B. die Combatants for Peace, fordern gemeinsam politische Verhandlungen und den Beginn eines (langen) Friedensprozess.

Militärdienstpflichtige verweigern den Kriegsdienst – den Repressionen, der Gewalt und der gesellschaftlichen Ächtung von Kriegsdienstverweiger*innen zum Trotz. Tal Mitnick, Sofia Orr und Ben Arad sind drei junge Verweiger*innen, die ihre Stimmen öffentlich erhoben haben. Sie verbüßen gerade Haftstrafen in Militärgefängnissen, weil das Recht, das Töten zu verweigern, für sie nicht gilt.

Diese Stühle stehen hier, um an die Gewalt zu erinnern, welche die Menschen mit diesen Namen erfahren. Viele von ihnen wurden aufgrund ihres Gewissens und ihrer Überzeugung inhaftiert; andere mussten fliehen, wurden einer Zukunft in ihrem bisherigen Leben beraubt.

Die Namen sind nicht von Toten, sondern von Lebenden.

Es sind die Namen von Menschen, die sich weigern sich zu töten. Sie sind Sand im Getriebe des militärischen Apparats der Leben und Lebensgrundlagen zerstört.

Ich möchte euch einige der Geschichten dieser Menschen erzählen. Sie stehen beispielhaft für Tausende, die sich bewusst und entschlossen der Spirale der Angst und Gewalt entziehen. Ihre Gründe mögen vielfältig sein; sie eint, dass sie die Pflicht zum Töten verweigert haben.

Sofia Orr aus Israel erklärte im Februar ihre Kriegsdienstverweigerung aus Protest gegen den Krieg in Gaza und die langjährige Besatzung Palästinas. Ich zitiere aus ihrer Verweigerungserklärung:

„Ich verweigere aus Empathie, Solidarität und Liebe für alle Israelis, die in Israel leben, und für alle Palästinenser*innen, die im Gazastreifen und im Westjordanland leben, unabhängig von ihrer Nationalität oder Religion. Ich verweigere aus der Überzeugung heraus, dass jeder Mensch es verdient, ein Leben in Sicherheit und Würde zu führen.“ Sofia Orr widersetzt sich der Spirale der Gewalt und der Pflicht zum Töten in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, die sich gewaltvoll gegen ihre Entscheidung richtet. „Es versteht sich von selbst,“ sagt sie, „dass ich sowohl vor der Gefängnisstrafe als auch vor den Reaktionen von außen Angst habe. Aber genau das macht es für mich umso wichtiger meine Kriegsdienstverweigerung öffentlich zu erklären. In diesen Zeiten ist es besonders wichtig, diese Stimme des Widerstands und der Solidarität zu erheben und nicht tatenlos zuzusehen.“

Auf einem anderen Stuhl steht der Name Stanislav. Stanislav ist 22 Jahre alt und hat die Ukraine verlassen, um der Rekrutierung für den Krieg zu entgehen. Nach seinem Schulabschluss hat er zunächst ein Studium in Kyiv begonnen und wurde daher vom Militärdienst zurückgestellt. Doch dann kam der Krieg. Seitdem droht ihm die Einberufung. Er ist geflohen und lebt derzeit als „vorübergehend Schutzberechtigter“ in Deutschland. Ob er bleiben kann, bis der Krieg zu Ende ist, weiß Stanislav nicht. Er hat Angst, als Militärdienstpflichtiger in die Ukraine zurückgeschickt zu werden.

Nach unserer Schätzung gibt es mehr als 325.000 Militärdienstpflichtige wie Stanislav, die die Ukraine in Richtung Westeuropa verlassen haben. Zu Beginn des Krieges hatte die Ukraine das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt. Diese Menschen stimmten mit den Füßen ab; ihre Flucht ist ein Symbol des Widerstands gegen die Kriegsbeteiligung, gegen ihre Kriegsbeteiligung. Ihre Stimmen werden unterdrückt, ihr Überzeugungen kriminalisiert.

Wir fordern von der ukrainischen Regierung, die Anerkennung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung und ein Ende der Verfolgung und Inhaftierung von Kriegsgegner*innen! Die Europäischen Union muss ukrainischen Geflüchteten endlich einen sicheren Aufenthaltsstatus zusagen, auch über März 2025 hinaus, wenn der vorübergehende Schutz endet.

Die ukrainische Regierung möchte Militärdienstpflichtige um jeden Preis zur Rückkehr – und damit zum Einsatz im Krieg – zwingen. Sie hat nun angekündigt, die Verlängerung von Ausweisdokumenten im Ausland für diese Personengruppe zukünftig zu verweigern. Wir fordern, dass die deutsche Bundesregierung ukrainischen Militärdienstpflichtigen Ersatzausweise ausstellt, damit sie sich frei bewegen können!

Anastasia ist 34 Jahre alt. Sie ist Russin, sie ist Soldatin und Mutter eines Kindes im Grundschulalter. Wegen der Schwangerschaft mit ihrem zweiten Kind wurde sie zunächst vom Dienst befreit. Während der letzten Mobilmachung wurde Anastasia dennoch einberufen. Das Militärgericht verurteilte sie zu sechs Jahren Haft, weil sie sich nicht bei den Militärbehörden zurückmeldet hatte – schwanger und vom Dienst befreit, wohlgemerkt. Die Vollstreckung des Urteils wurde aufgeschoben bis ihre Kinder volljährig sind. Eine Berufung gegen das Urteil und die 6-jährige Haftstrafe blieb ergebnislos.

Die Regierungen müssen endlich ihren politischen Versprechen nachkommen und Kriegsdienstverweiger*innen, Deserteur*innen und Kriegsgegner*innen aus Russland und Belarus schützen! Es gibt über 270.000 Militärdienstpflichtige aus diesen beiden Ländern, die geflohen sind, um sich der Beteiligung am Krieg in der Ukraine zu entziehen – darunter auch Maxim, Nikita und Maria, deren Namen ihr hier lesen könnt.

Heute ist der Internationale Tage der Kriegsdienstverweigerung und wir setzen uns für das international verbriefte Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung ein. Dieses Recht muss – ins Besondere – im Krieg Gültigkeit haben. So in der Ukraine, in Russland, in Belarus, in Israel und anderswo.

Wir lehnen die staatliche Logik des Militärischen und des Kriegszwangs entschieden ab. Kriege zwingen immer mehr Menschen zur Flucht und zugleich werden die Bewegungen der Migration mit militärischer Gewalt und an die Ränder der Europäischen Union gedrängt. Diejenigen, die es nach Deutschland schaffen, werden zu einem Leben in Unsicherheit gezwungen, weil ihre Flucht vor Krieg und Kriegsdienst nicht als Asylgrund anerkannt wird.

Es ist eine koloniale Praxis, Asyl zu geben – zu entscheiden, wessen Geschichte wahr ist und wessen Leben schützenswert ist. Wir machen uns daher stark für ein umfassendes Recht auf Kriegsdienstverweigerung, für ein Recht zu gehen, zu kommen und zu bleiben. Wir fordern Schutz für alle Kriegsdienstverweiger*innen, Deserteur*innen und Kriegsgegner*innen!

Wir stehen hier als Stimme des Widerstands gegen Militär, Militarisierung und Krieg. Wir sind solidarisch mit allen, die sich der Kriegsbeteiligung verweigern – aus vielfältigen Gründen, auf allen Seiten des Krieges. 

Vielen Dank!

Marah Frech: Für ein Recht zu gehen, zu kommen und zu bleiben. Redebeitrag zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung am 15. Mai 2024 in Stuttgart.